. Alexanderkirche Wildeshausen – Bauzeit und eingestürzte Türme

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Alexanderkirche in Wildeshausen – Bauzeit und eingestürzte Türme

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Die Alexanderkirche in Wildeshausen hat chronikalisch erwähnte Vorgängerbauten, die aber kaum archäologische Spuren hinterlassen haben und für die Baugeschichte der heutigen Kirche ohne Bedeutung sind.
Zu deren Errichtung im Hochmittelalter gibt es eine einzige chronikalische Notiz. Deren Interpretation bedarf der genaueren Betrachtung.
Nicht minder wichtig ist die Verwendung aller am Gebäude zu findenden Hinweise auf Bauschritte und nachträgliche Veränderungen.

Die heutige Kirche ist eine Backsteinbasilika mit annähernd symmetrischem Querhaus und rechteckig schließendem Chor. Auf einem zu beiden Seiten weit ausladenden zweigeschossigen Westbau aus Granitquadermauerwerk steht mittig ein annähernd quadratischer Backsteinturm von vier Geschossen, darüber ein Walmdach mit quer zur Kirchenachse stehendem First und einem Dachreiter. Der Turm ragt einen Meter weiter nach Osten als die Seitenarme des Granitunterbaues, steht also teilweise auf dem Mittelschiff der Basilika, von innen betrachtet jedoch auf einem Gurtbogen mit Granitpfeilern.


Gliederung:

1. Quellen und Berichte
1.1. – Wildeshauser Stiftschronik
1.2. – Oskar Tenge in MA Baudenkmäler Niedersachsens
1.3. – Die Bau- und Kunstdenkmäler des Herzogtums Oldenburg
1.4. – Erneuerung und Bauforschung durch A. Former
1.5. – Dissertation Christa Schwens

2. – Baumaterialien
2.1. – Granit
2.2. – Backstein
2.3. – Sandstein
2.4. – Verteilung

3. Befunde
3.1. Seitenschiffe
3.2. Verbindungen zwischen Westbau, Langhaus und Turm
3.2.1. Nordseite
3.2.2. Südseite
3.2.3. Heutiger Westturm
3.4. Räume im Westbau
3.5. Gewölbe des Kirchenraums
3.6. Anderweitige Turmeinstürze

5. Schlussfolgerung

6. Exkurs: „Wilshausen“ von M. Merian

7. Quellen zur Alexanderkirche

8. Fußnoten





St. Alexandri in Wildeshausen:
Turm auf ausladendem Westbau

(1.)  Quellen und Berichte:

(1.1.)  Wildeshauser Stiftschronik:

Die Wildeshauser Stifts-Chronik unter der Bezeichnung Directorium Cellariae wurde im 17. Jahrhundert von dem Thesaurarius Hermann Wilage geführt. Die Darstellungen über das erste Viertel des 13. Jahrhunderts verfasste er 1635, also mit noch ein wenig größerem Abstand zu den dargestellten Ereignissen, als von der Abfassung bis 2024. Allerdings schließt man im Landesarchiv in Oldenburg aus den bei der Datierung erwähnten Amtsträgern, Wilage möge noch Originaldokumente zur Verfügung gehabt haben.
Ein kurzer Ausschnitt der Chronik wurde 1930 von Gustav Rüthning in das Oldenburgische Urkundenbuch übernommen, als Urkunde Nr. 77 vom 22. April 1224:1

«Fundamentum turris, quae modo cernitur, positum est X: Kal. May anno 1224 tempore Honorii, papae eius nominis tertii, Frederici imperatoris, Engelberti episcopi Bremensis, Adolphi episcopi Osnabrugensis, Anfridi decani Wildeshusensis.
Fuerunt alias duae turres lapieae in Wildeshausen, prior corruit in die sanctae Catharinae ((25. November)) anno 1214 absque laesione hominum et campanarum, altera corruit I.Kal. Marcii in ieiunio anno1219 ante horam completorii.
Anfridus decanus, sacerdos et canonicus, cuius ope villae decima, transiit, in singulares usus fratrum.»

Übersetzung:
„Das Fundament des Turmes, welcher sich auf_die_Art/nur unterscheidet [Präsenz !], wurde am 22. April (10. Kalenden des Mai) gesetzt [Perfekt !], zur Zeit des Papstes Honorius, des Kaisers Friedrich des Bischofs Engelbert von Bremen, des Bischofs Adolf von Osnabrück und des Dekans Anfried von Osnabrück.
Es gab zwei andere Steintürme in Wildeshausen [Perfekt statt Plusquamperfekt]; der erste stürzte am Katharinentag (25. November) 1214 ein, ohne Schäden von Menschen und Glocken. Der zweite stürzte an den I. Kalenden des März 1219 ein, vor der Stunde des Completa-Gebetes.
Der Dekan Anfried, Priester und Kanonikus, durch dessen Macht der Zehnt dieses Ortes in Einzelnutzungen der Brüder überging.“

Feinheiten:
Das Hauptereignis ist nicht der Einsturz der Türme, sondern das Setzen des Fundamentes.
Der Relativsatz lässt sich in verschiedener Weise deuten. Er kann bedeuten: „der heute so zu erkennen ist“ oder kurz „so dasteht“, wie in der Stader Chronik (Transkript S.316 Zeile 44/45)10 über den Liemar-Bau des Bremer Doms. Verglichen mit der Verwendung von «cernitur» in einem Ablassbrief zugunsten des Bremer Doms aus dem Jahr 1382 Bremisches Urkundenbuch (1381 – 1410) S. 10 Nr. 1011 kann er auch bedeuten: „der sich darin unterscheidet.“ Das wäre so viel wie „allein des Turms“, also Oskar Tenges Interpretation des Turmeinsturzes (s. 1.2.) genau entgegen gesetzt. Aus den heutigen Baubefunden geht hervor, dass es sich um so etwas wie eine Grundsteinlegung handelte, aber nicht um ein Fundament am Boden.
Vom ersten der vorangegangenen Turmeinstürze (1214) wird berichtet, dass er keine wesentliche Begleitschäden verursacht habe. Vom zweiten Turmeinsturz (1219) wird nichts über das Ausmaß des Schadens berichtet.
Der letzte von Rüthing übernommene Satz gehört inhaltlich nicht mehr zum Thema Türme, sondern beschreibt was Anfried sonst noch getan hat: Er hat den Zehnt aus dem Ort Wildeshausens für den Einzelgebrauch der Kanoniker zur Verfügung gestellt. Das deutet nicht gerade auf einen finanziellen Engpass durch den Bau einer neuen Kirche.
Möglicherweise ist Anfried bald nach der Gundsteinlegung für den Turm gestorben, denn in einer Urkunde vom 20 Juni 1224 wird als Zeuge ein Dekan anderen Namens erwähnt, «Syfridus decanus».
Bei den Bischofsnamen war Wilage offensichtlich ein Fehler unterlaufen: Tatsächlich regierte in Bremen seit 1219 Gerhard II. (Gerhard zu Lippe). Sein Vorgänger Gerhard I. (Gerhard von Oldenburg-Wildeshausen) war Sohn eines in Wildeshausen regierenden Grafen. Seit 1191 Bischof von Osnabrück, wurde er nach päpstlichem Eingreifen in einen Nachfolgerstreit 1210 zum Erzbischof von Hamburg/Bremen gewählt, konnte das Erzstift Bremen aber erst ab 1216 regieren.2 Der Förderung des Baues einer repräsentativen Stiftskirche in Wildeshausen durch diesen dem Ort verbundenen Bischof entsprechen die großzügigen Zuwendungen, die das Stift seit 1194 durch ihn, seinen weltlich regierenden Bruder und den Sachsenherzog und Pfalzgrafen zu Rhein Heinrich erhielt. Anschlie0end regierte das Bistum Osnabrück von 1216 bis 1224 Adolf von Tecklenburg, von dem auch eine Zuwendung an das Stiftbeurkundet ist, danach bis 1226 Engelbert I. (Engelbert von Isenberg).


(1.2.)  Oskar Tenge in MA Baudenkmäler Niedersachsens:

Oskar Tenge, der in dem Jahr in den Staatsdienst des Herzogtums Oldenburg trat, beschrieb die Kirche in Band 1, S. 319 ff. des Werks Die mittelalterlichen Baudenkmäler Niedersachsens, herausgegeben von dem Architecten- und Ingenieur-Verein für das Königreich Hannover. Er traute der Chronik mehr als seinen Augen und meinte: „Dieser völlige Neubau der Thürme aus den Fundamenten läßt vermuten, daß sich daran der Neubau der Kirche selbst, welche dem Style nach in der ersten Hälfte des 13ten Jahrhunderts entstanden sein muß, anschloß.“
Besonders interessant an seinem Aufsatz ist die illustrierende Lithografie, die die Alexandekirche mit einem anderen Seitenschiffdach zeigt, als fünfzig Jahre später fotografiert wurde.
Seine Interpretation des Chronikeintrags wurde seither von den meisten Autoren übernommen.


(1.3.)  Die Bau- und Kunstdenkmäler des Herzogtums Oldenburg:

In diesem 1896 gedruckten Inventar gibt es zahlreiche Quellenangaben zur politischen Geschichte Wildeshausens, aber bei der Erwähnung der Notiz der Stiftschronik werden im Text zwar Erstellungsdatum und Autor genannt, aber kein Zitat geliefert. Auf S. 94 ist zu lesen: „Wie schon der Grundriss erkennen lässt, waren ursprünglich zwei steinerne Türme vorhanden, von denen der eine nach der Aufzeichnung des Dechanten Hermann Wilage vom Jahr 1635, am Catharinentage 1214 (25. November), der andere am 28. Februar 1219 einstürzte. Ein Wiederaufbau der Türme unterblieb, es wurde angeblich erst im 14. Jahrhundert der heute vorhandene Turm über der Vorhalle errichtet, die äußere Außenmauer auf den beim Neubau der Kirche hergestellten Gurtbogen gestellt und die jetzige Helmspitze mit Dachreiter errichtet, der im Jahre 1565 durch einen neuen ersetz worden ist.“ Es wird nicht einmal deutlich, ob alle hier miteinander verbundenen Aussagen aus der einen Quelle stammen, oder aus mehreren Quellen. Die Wortwahl „14. Jahrhundert“ klingt eher modern, aber eine Wortwahl wie „erst hundert Jahre später“ wäre vorstellbar


(1.4.)  Erneuerung und Bauforschung durch A. Former:

Der preußische Regierungsbaurat Alexander Former3 erforschte und sanierte Die Alexanderkirche von 1908 bis 1912. Angefangen hatte die Arbeiten unter zwei Vorgängern, vorbereitet und begleitet von ausgiebigen Diskussionen über das anzustrebende stilistische Ergebnis. Er übernahm auf S. 82 die Datierung des heutigen Turms auf das 14. Jahrhundert ein, die angesichts der frühgotischen Grundgestalt mit einigen romanischen Reminiszenzen Zweifel weckt.
Hinsichtlich seiner Bauuntersuchungen ist die Erkenntnis bedeutsam, dass nicht nur Gebäudeteile mit Granitquaderverblendung, sondern auch diejenigen mit Backsteinoberflächen Mauerkerne aus Gussmauerwerk haben, gefüllt mit Granitfindlingen, Raseneisenstein und Ziegelbruch.
Im Bereich von Vierung und Chorquadrat fand er Mauerreste einschließlich Spuren einer Ostapsis. Wegen vergleichsweise geringer Mauerstärken war er unschlüssig, ob es Reste eines Vorgängerbaues oder einer Krypta seien.
Aus romanischen Architekturteilen, die er im Unterbau des Altars vermauert fand, spekulierte er auf einen weiteren Vorgängerbau zwischen dem (wohl hölzernen) des 9. Jahrhunderts und den Anfängen der bestehenden Alexanderkirche.




St. Alexandri in Wildeshausen: 1861
Nordseite Pseudobasilika
mit sichtbarer Hochschiffswand



Nordquerhaus und angrenzender
Obergaden mit Dachspuren
von 1861 (dünn) und bis 1910 (dick)


(1.5.)  Dissertation Christa Schwens:

!969/70 legte Christa Schwens eine Dissertation über die Alexanderkirche vor. Ihre wichtigste Aussage ist, dass die gängige Auslegung des Chronikeintrags nicht fundiert ist, die Baugeschichte hinsichtlich der Abfolge von Turmeinsturz und Bau der Basilika also frei erfunden ist. Verdienstvoll ist auch ihre Recherche der Stiftsgeschichte, darin bedeutsam die sehr starke Stellung des Patronats: Der Stifter schrieb fest, dass das Amt des Rektors seinen Erben vorbehalten sein sollte. Nach dem Aussterben seiner Dynastie wurde diese Amt aufgeteilt in das des Vogtes für materielle Belange und des Probstes für geistliche Belange. Die Pröbste entstammten dann dem oldenburgischen Grafenhaus, während die Vogtei dem Erzbistum Bremen zustand, wiewohl das Stift kirchlich dem Bistum Osnabrück unterstellt blieb, das schließlich durch das neu geschaffene Amt des Dekans vertreten war. Manche Interpretationen der von ihr ausführlich beschriebenen Gebäudedetails durch Frau Schwens sind allerdings nicht zwingend. Ihre Spätdatierung von Zahnfriesen ist regelrecht falsch: Zahnfriese gibt es an an der Hauptapsis der Klosterkirche Lehnin, mittlere Datierung um 1160, und am Chor der St.-Osdag-Kirche in Mandelsloh, einhellig auf die 2. Hälfte des 12. Jh. datiert (so Dehio-Handbuch von 1992), mit einzelnen Einschätzungen auf 1155–1165 (Denkmalatlas 4) und um 1180 (Kirchengemeinde5).


(2.)  Baumaterialien:

Grundriss nach A. Former; dazu Materialien im Westbau (selektiv): blau = Granit, grün = Sandstein, rot = Backstein:
Die nachgetragenen Kreise in den Ecktürmen sollen die Kuppelgewölbe der Kapellen andeuten, obwohl der Grundriss eigentlich nur die Erdgeschossräume zeigt.


(2.1.)  Granit:

Die Wandoberflächen des Westbaues der Alexanderkirche bestehen aus exakt zurechtgehauenen Granitquadern, wie wenig weiter nördlich an einigen Kirchen im Bereich der Friesischen Wehde zu finden. Dieser friesische Granitquaderbau beginnt erst um 1200.12
Am Turm der Johanniskirche in Bremen-Arbergend wird die Außenwand anhand der Schallbiforien auf eine Bauzeit um 1100 eingeschätzt, aber seine Quader sind wesentlich unregelmäßiger als die der Alexanderkirche.
Am Turm der Cyriakus-Kirche in Bruchhausen-Vilsen sind – neben Portasandstein und unregelmäßigem Feldstein, sowie etwas Backstein – möglicherweise auch einige Granitquader verbaut. Der Turm und die übrigen älteren Teile der Kirche werden (ohne nähere Begründung) auf einen Baubeginn „um 1200“ datiert (Dehio HB-NI (1992) S. 298/299 und die Broschüre über Dorfkirchen in den Landkreisen Diepholz und Nienburg12).
Das spricht für einen Baubeginn des Westbaues der Alexanderkirche um 1200, wie auch von Frau Schwens angenommen. In diese Zeit passt auch das zweistufige Westportal aus Sandstein.

 
„Schlosskirche“ St. Petri,
Varel, Turm ab 1200


St. Mauritius, Reepsholt

St. Johannis,
Bremen-Arbergen


St. Cyriakus, Bruchhausen-Vilsen
(2.2.)  Backstein:

Backsteinbau gibt es im Weserflachland bekanntlich seit etwa 1160 oder 1170, im Domturm und der Johanniskirche in Verden. Ähnlich kleinformatige Backsteine wie die frühen Verdener traten beim Abriss der Bremer Katharinenkirche zutage, wie auf Filmaufnahmen zu erkennen ist. Die Klosterkirche St. Marien in Osterholz-Scharmbeck wurde 1186–1197 (chron.) ganz aus Backstein errichtet.
Mithin wurde der Westbau der Alexanderkirche nicht deswegen aus Granitquadern errichtet, weil man noch nicht über Backsteintechnik verfügte. Angesichts der von Frau Schwens erwähnten starken Stellung des Patronats im Stift Wildeshausen ist diese Materialverwendung als Hervorhebung des Patronatsbaues zu deuten, vergleichbar mit dem Sandsteinturm der Andreaskirche in Verden und den unteren Geschossen des Westbaues der „Schlosskirche“ in Varel. Dazu passt die Inneneinteilung mit zwei Privatkapellen. Die Orgelempore ist hingegen neu.
Miit Blick auf Varel ist auch zu erwägen, dass die eingestürzten Turmobergeschosse nicht unbedingt eine Außenhaut aus Granitquadern hatten. Sie können ebenso gut mit Backstein verblendet gewesen sein, oder gar leichte Fachwerkkonstruktionen.


Klosterkirche Osterholz, 1186–1197,
Querhaus mit Zahnfriesen und Bogenfries

(2.3.)  Sandstein:

Das Westportal unter dem Turm der Alexanderkirche passt mit seinen Rundbögen und Rundstäben, mit der Form seiner Kapitelle und dem Tierschmuck gut zu einer Entstehungszeit um 1200. Ebenso der Kleeblattbogen der Türöffnung. Das Material Sandstein ist kein Grund für eine spätere Datierung, die Verwendung von Sandstein für komplizierte Formen an Granitquaderkirchen gibt es auch im friesischen Bereich. So wurden im Boden um die Mauritiuskirche in Reepsholt Sandsteinbögen aus der Zeit gefunden, da auch die Fensterzone eine Granitfassade hatte.



Alexanderkirche: Westportal
(2.4.)  Verteilung:

Die Westwände der Seitenschiffe sind mit Granitquadern verkleidet, liegen aber östlich der äußerlich erkennbaren Ostwände des Westbaues. Wie schon erwähnt, zeigen auch die Pfeiler des die Ostwand des Mittelturms tragenden Gurtbogens Granitquader. Im Westbau haben Erdgeschossräume und Kapellen in den seitlichen Turmunterbauten Gewölbe aus Backstein, die vor oder auch nach den Turmeinstürzen errichtet sein können, s. u.
Aus Backstein sind große Teil der in den dicken Mauern verborgenen Treppenaufgänge und die Tonnengewölbe und Teile der Seitenwände die Verbindungsgänge von den Seitenschiffen zu den seitlichen Erdgeschossräumen des Westbaues. Eingebettet in die dicken Mauern des Westbaues, können sie bei den Turmeinstürzen keinen Schaden genommen haben. In den Verbindungsgängen finden sich die gleichen Backsteinformate wie in den Laibungen der benachbarten westlichen Seiteneingänge des Schiffs. Ebensolche Backsteinformate finden sich – neben anderen – an den Außenwänden der Kirche. Damit ergeben die Backsteinformate keinen Grund, eine Errichtung der Kirche nach den Turmeinstürzen anzunehmen.
Allerdings gibt es außen an Schiff und Ostteilen ein Nebeneinander unterschiedlicher Backsteinformate und Mauerverbände, darunter viel flämischen, besonders an den Querhäusern wilden, an den Seitenschiffen kleine Flächen wendischen Verbandes. Babei lässt sich keine durchgängige Abfolge erkennen, die Verteilung ist eher mit der parallelen oder abwechselnden Arbeit zweier Teams vereinbar.


Südseite des Langhauses, überwiegend flämischer Verband

Nordseite: Langhaus überw. flämischer, Querhaus unten flämischer aber überwiegend wilder Verband

Nordwestliches Seitenportal

(3.)  Befunde:

Die Darstellung konzentriert sich auf Befunde, die für die Entwicklung des Gesamtbaues der Alexanderkirche in Wildeshausen relevant sind.

(3.1.)  S e i t e n s c h i f f e :

Wie Frau Schwens erwähnt hat und an den Putzspuren diverser Dachansätze zu erkennen ist, wurden die Seitenschiffsdächer mehrmals umgebaut, anscheinend wegen mangelnder Dichtigkeit.

Unter den Baubefunden fallen zwei von Frau Schwens nicht erwähnte Baunähte an den Seitenschiffen auf. Während an den Querhausarmen der Sockel bis bis an den Erdboden herab aus zurechtgehauenen Quadern geformt ist besteht westlich davon die unterste Lage aus unregelmäßigem Feldstein, erst der Turmsockel ist wieder bis zum Boden herab behauen. Alerdings wurde im Vorgriff auf die 1908–1912 erfolgte Sanierung der Kirche das angrenzende Erdreich oberflächlich abgetragen, um die aufsteigende Nässe im Mauerwerk zu vermindern.
Auf der Südseite liegt diese Naht sehr nahe am Querhauswinkel. Bis zu dieser Naht reicht die nur am Südquerhaus vorhandene Lage von Granitquader oberhalb der Sockelkante. Im Backsteinmauerwerk setzt sich die Naht nach schräg oben ostwärts bis an den Winkel fort, sodass das Mauerwerk des Seitenschiff etwas auf dem vom Querhaus kommenden Mauerwerk liegt.
Auf der Nordseite liegt die Naht im Sockel in etwa 2 Abstand vom Winkel und setzt sich nicht in den Backstein fort. An diesen auch im aufragenden Mauerwerk erkennbaren Baunähten ändert sich der Natursteinsockel: Östlich davon besteht er vollständig aus Quadern, westlich davon gibt es eine Lage Quader über Feldstein. Das lässt darauf schließen, dass wenigstens hier das Querhaus vor dem Langhaus gemauert wurde, mit dem Langhaus allerdings an einer anderen Stelle begonnen worden sein kann.

 
Südseitenschiff und Südquerhaus

Baunaht am Ostende des Südseitenschiffs

Langhaus-Nordseite
 

(3.2.)  V e r b i n d u n g e n   z w i s c h e n   W e s t b a u ,   L a n g h a u s   u n d   T u r m :

Hinweise auf das Zeitverhältnis der Errichtung der verschiedenen Gebäudeteile zum Einsturz der alten Westtürme sind dort zu suchen und auch tatsächlich zu finden, wo diese Gebäudeteile und die Dächer über den Basen der eingestürzten Türme miteinander verbunden sind, und beim Vergelcih der Materialverwendungen außen und innen.

(3.2.1.)  Nordseite:


Westbau von Südosten 1910

Turmunterbau von Nordosten

Nordwestliche Turmecke
An der Nordwand des Turms gibt es zwei Schlaggesimse. Das beginnt auf der Mauerkante des Granitunterbaues, das obere in Traufenhöhe des Langhausmittelschiffs. Da das nächsthöhere Geschossgesims des Turms am Schlaggesims endet, dürfte der heutige Turm in Verbindung mit einem höheren Satteldach auf dem Unterbau des eingestürzten Nordturms errichtet worden sein, als dem jetzigen Satteldach.
Der Bogenfries an der Traufe des Mittelschiffsdaches setzt sich um zwei Bögen bis an das untere Schlaggesims fort, aber mit zwei Materialwechseln zu westwärts immer dunkleren Farben: Unter der Turmecke beginnt dunklerer Backstein, über der Granitkante eventuell sogar teilweise Naturstein. In senkrechter Linie ab der Oberkante des Granits hat die westliche Fortsetzung der Mittelschiffswand eine Baunaht.
Das obere Schlaggesims an der Turmnordwand beginnt auf der Oberkante der Westverlängerung des Traufenfrieses, und zwar senkrecht über der Kante der Granitwand. Es würde zu einer Phase passen, da die Seitenschiffsdächer bis an die Mittelschiffstraufe reichten, aber dieser 1910 beendete Zustand war erst nach 1861 geschaffen worden, bei schon vorher niedriger Lage des Dachs auf dem Turmstumpf. Im Westen enden beide Schlaggesimse an der Nordwestkante des Turms, also über einander. Ob man von vorn herein zwei Schlaggesimse angelegt hat, weil man noch nicht wusste, wie man weiterbauen wollte, sei dahingestellt. (Als Vergleich bietet sich die Matthäuskirche in Rodenkirchen an, wo man einerseits Schildbögen anlegte, im Hinblick auf eine mögliche Einwölbung, aber andererseits die Innenseite des Querhausgiebels ausmalte, im Hinblick auf einen bis unter die Dachschrägen reichenden Kirchenraum.)
Die Giebeldreiecke des westlichen Querbaues der Alexanderkirche sind aus Backstein im Kreuzverband gemauert, im zentralen Bereich aus Mauerziegeln in mittelalterlichem bis frühneuzeitlichem Format, zu über der Hälfte aber in kleinem Format, wie im 19. Jahrhundert üblich. Das spricht für neuzeitliche Veränderungen bis ins 19. oder 20. Jahrhundert. Aber die Turmwand ist sowohl über als auch unter dem oberen Schlaggesims in mittelalterlichen Verbänden und wohl auch mittelalterlichem Material gemauert.

Die westlichsten beiden Bögen des Frieses am Obergaden sind nicht mehr Traufenfries, sondern liegen an der Nordwand des Mittelturms. Der letzte halbe Bogen liegt oberhalb der Ostwand des Westbaues, muss also nach dem Einsturz des nördlichen Westturms entstanden sein. Beide Abschnitte unterscheiden sich in Form und Farbe vom übrigen Fries.

 
Traufenfries und Nordostecke des Turms

Traufenfries an der Nord-
ostecke des Turms


Traufenfries und Südostecke des Turms
 

Südlicher Obergaden mit Traufenfries

(3.2.2.)  Südseite:

An der Südwand des Turms gibt es nur über dem heutigen, unteren Dach ein Schlaggesims. Oberhalb davon ist östlich des Firstes die Putzspur eines höher gelegenen Dachansatzes zu erkennen. Wie das obere Schlaggesims an der Nordwand verläuft sie nicht parallel, sondern steiler und zielt auf eine Traufe wenig oberhalb und außerhalb der heutigen. Dort hat die Mittelschiffswand ein Loch, das zur Dachkonstruktion oder nur zu einem Rüstholz gehört haben mag. Der Bogenfries der Mittelschiffstraufe ist am Turm bis an das Schlaggesims fortgesetzt, aber sein Material unterscheidet sich dort in Form und Farbe von den Friesabschnitten östlich des Turms. Stattdessen gleicht sie der Farbe des nächst höher gelegenen Etagengesimses des Turms. Auch unterscheidet sich das Relief etwas von dem des Traufenfrieses, das auf der Südseite oberhalb der Bogenreihe eben ist. In der Wand gibt es eine senkrechte Baunaht westlich neben der letzten Bogenkonsole und zwei nicht ganz senkrechte wenig weiter östlich. Unterhalb des Bogenfrieses liegt in Höhe der heutigen Dachtraufe des Südflügels des Westbaues ein kurzes Fragment eines Konsolenfrieses, aber nur im Bereich des Turms. Unterhalb dieses Frieses ist die Hochschiffswand bis an die Granitwand des Westbaues kaum gestört.
 
Turm von Südosten

Westbau von Südsüdosten

Turm von Südwesten
 
(3.2.3.)  Heutiger Westturm:
Am heutigen Westturm haben die beiden unteren Backsteingeschosse deutlich gotische Fensteröffnungen und Zierblenden, beides in der Westwand des unteren Backsteingeschosses, sowie eine Blendarkade mit Mosaikhintergründen in der Südwand des Geschosses darüber. In den zweifellos jüngeren oberen Geschossen dominieren wieder romanische Formen. Diese Kombination ist verwunderlich, aber Wildeshausen darin nicht einmalig. Auswärtige Beispiele sind der Westturm der Petrikirche in Westerstede und derjenige in Kirchdorf auf der mecklenburgischen Insel Poel.

Die Mauerecken der Backsteingeschosse des Turms der Alexanderkirche sind mit Granitquadern betont. Deren Gesamtmenge reicht aber nicht aus, um vier Außenmauern auch nur eines Geschosses eines der verlorenen Ecktürme zu bedecken. Die Nordwand des obersten Turmgeschosses hat in den Wandflächen außer Backstein auch lagerhaftes Feldsteinmauerwerk. Beim Einsturz der Obergeschosse des Turmpaares ist also wohl nicht viel an Granitquadern angefallen. Daher ist damit zu rechnen, dass auch die verlorenen Türme schon großenteils Backsteinmauern hatten, so wie das heute zu einem Turm verbundene Turmpaar der "Schlosskirche" in Varel.



St. Petri, Westerstede


Kirchdorf, Insel Poel
(3.3.)  R ä u m e   i m   W e s t b a u :

In der Südwestecke des Jochs zwischen den Türmen ist wegen des Treppenaufgangs zur Orgelempore besonders gut zu erkennen, dass die Gewölbedienste hier ungebrochen vom Boden bis zu den Kämpfern durchlaufen. Es sind Gruppen von drei Diensten rechteckigen Querschnitts aus Stein, die Vorlage für die Rippe jeweils um 45° gedreht. Einer der Dienste ist auf gut einen Meter Länge mit Backstein geflickt, was eine Reparatur nach dem Einsturz der Ecktürme sein könnte.
Die Wände der Räume in den Ecktürmen bestehen größtenteils aus Backstein, auch dort, wo Schäden durch die Turmeinstürze nicht zu erwarten sind, also in den tonnengewölbten Durchgängen aus den Seitenschiffen in die Turmerdgeschosse und in den in den dicken Mauern verborgenen Treppenaufgängen. Die Aufgänge zu den Kapellen in den ersten Obergeschossen zweigen aus den gerade genannten Durchgängen ab und sind über 60 cm breit. Die Aufgänge aus den Kapellen weiter nach oben sind höchstens 60 cm breit und haben Abzweigungen zu den Dachräumen über den Seitenschiffen.

Gewölbekuppe der süd­lichen Turmkapelle
Die Kuppelgewölbe über den Kapellen wecken durch ihre Nähe zu den durch Abtragung nach den Einstürzen entstandenen Mauerkronen nicht den Erwartung, sie könnten die Einstürze unbeschadet überstanden haben. Andererseits passt ihre Form eher in das erste denn in das zweite Viertel des 13. Jahrhunderts.
Die gestaffelten Triforien, die die Kapellen mit dem Kirchenraum verbinden, verwundern ob ihrer Lage: Vor Ihrer Verglasung ermöglichten sie Personen, die sich in den Kapellen aufhielten, akustisch eine im Chorraum gehaltene Messe zu verfolgen, aber sie boten keine Sicht auf Hauptaltar und Zeremonie.

Südwestliche Gewölbevor-
lagen bei der Orgelempore

Zugang zum Nordturm

Nordseite des Zugangs zum Nordturms

Kuppelgewölbe der
südlichenTurmkapelle

Fenster von der Südkapelle
zum Mitteljoch

(3.4.)  G e w ö l b e   d e s   K i r c h e n r a u m s :



Klost. Osterholz, 1186–1197:
rundbogige Kreuzgratgewölbe
 
Die Gewölbe sämtlicher hohen Teile des Kirchenraumes, also Chor, Querhausarme, Vierung, Langhaus und das Orgeljoch unter dem Turm haben spitzbogige domikale Kreuz­rippen­gewölbe mit spitzbogigen Gurt- und Schildbögen.

Die beiden Querhausjoche und vordere Westjoch (Orgeljoch unter dem heutigen Turm) haben zarte Bandrippen, alle übrigen hohen Joche und ebenso die Gewölbe der Seitenschiffe Wulstrippen (runder Querschnitt ohne Sockel). Bandrippen hat auch das Joch zwischen den Türmen. Die Seitenschiffe haben rundbogige Arkaden, Gurtbögen und Querhausanschlüsse, aber Wulstrippen mit spitzbogigem Verlauf. Es gibt mehrere Beispiele, von Pontigny bis Bassum, dass man Seitenschiffe altertümlicher gestaltete als die hohen Teilräume (in beiden Fällen spitzbogig aber ohne Rippen).

Mit Gewölbeformen wie denen des Kichenraumes der Alexanderkirche ist angesichts derer der Zisterzienserkirche in Marienfeld ebenfalls ab Beginn des 13. Jahrhunderts zu rechnen. Durch die Rundbogenarkaden sind die Gewölbe der Wildeshauser Alexanderkirche in der Summe altertümlicher als diejenigen des Osnabrücker Doms.


Klosterkirche Marienfeld:
Chor, ab etwa 1200
 

Chor der Alexanderkirche in Wildeshausen

Nordquerhaus der
Alexanderkirche

Alexanderkirche:
Südquerhaus westwärts

Alexanderkirche:
Südseitenschiff ostwärts

Alexanderkirche:
Langhaus zur Orgel


(3.5.)  F e n s t e r   u n d   W ä n d e :

Durch die (ursprünglich) rundbogigen Obergaden ist das Mittelschiff in Wildeshausen altertümlicher als das des Bremer Doms. Zwei Kirchen im Rheinland wurden schon im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts innen mit Rundbogenfriesen dekoriert:
• Das Langhaus von St. Aposteln in Köln wurde nach der Zerstörung durch einen Großbrand (wohl kurz vor 1200) erneuert und erhielt dabei unterhalb der Triforien Rundbogenfriese. Eine
urkundliche Notiz, im März 1219 sei die Kirche eingewölbt gewesen, lässt diese Dekoration in die ersten beiden Jahrzehnte des 13. Jahrhunderts datieren.6 Die Einwölbung des Langhauses ist den rundbogigen Verläufen und rechteckigen Querschnitten der Gurtbögen ausgesprochen konservativ. Das Westquerhaus wurde ab etwa 1225 deutlich eleganter eingewölbt.
• An der Onze-Lieve-Vrowemunsterkerk in Roermond ist der Trikonchus der Ostpartie der älteste Teil und wird auf das 1. Viertel des 13. Jh. datiert.7 Die Innenwände beider Seitenkonchen sind unterhalb der Empore mit Bogenfriesen geschmückt.
• Da der 1209 von ihm begonnene Neubau des Magdeburger Doms nur langsam voranschritt, ließ Erzbischof Albrecht von Käfernburg die großenteils im letzten Drittel des 11. Jahrhunderts errichtete benachbarte Liebfrauenkirche als Ersatzkathedrale herrichten, indem er in das bis dahin flachgedeckte Mittelschiff gotische Gewölbe einziehen ließ, 1221/1222 (d).8 Die sechsteiligen Rippengewölbe haben elegante Rippen und Gurtbögen nach französischem Vorbild, aber einen leichten Stich. Ihre Vorlagen sich durch Spitzbögen nah über den alten romanischen Arkaden verbunden, diese Vorlagenbögen mit Rundbogenfriesen geschmückt.
• Als Beginn für die frühgotische Einwölbung des Bremer Doms wird üblcherweise der 1224 genehmigte Ablass „zur Reparatur der bremischen Kirche“ angesehen.9 Die Gewölbe haben so große Ähnlichkeit zur Magdeburger Liebfrauenkirche, dass diese als Vorbild anzusehen ist. Vorlagebögen hat der Bremer Dom nicht bekommen. Die Bogenfriese erscheinen im Mittelschiff des Bremer Doms als harmonischer Bestandteil der romanischen Arkaden, aber sie sind auf Lisenen an den Pfeilern abgestimmt, deren Breite die Anzahl der vorgelagerten Gewölbevorlagen berücksichtigt; also sind die Friese hier erst mit der Einwölbung angebracht worden, mithin im zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts.
Fazit für Wildeshausen: Die Bogenfriese sind mit einer Langhauserrichtung vor dem Einsturz der Türme vereinbar, aber eine Datierungshilfe für diese Bauphase bieten die Vergleichsbauten nicht. Munsterkerk in Roermond (Seitenarme des Trikonchus).

Osnabrücker Dom:
Langhaus zum Chor

Wiewohl es auch andernorts Beispiele gibt dass die Seitenschiffe altertümlicher gestaltet wurden als die hohen Teilräume, ist die Alexanderkirche hinsichtlich der Arkaden altertümlicher als der Osnabrücker Dom (s. o.).

Die Obergadenfenster sind in Wildeshausen in der Lage alle original erhalten, in der Form nur auf der Nordseite. Im Unterschied zu den westlichen Querhausfenstern (am Südquerhaus vermauert) und den ursprünglichen fenstern der Seitenschiffe sind sie innen wie außen mit kräftigen U-förmig umlaufenden Rundstäben geschmückt. Alle Obergadenfenster stehen über den Mittelpfeilern des gebundenen Systems. Ihre steilen Sohlbänke beginnen in geringem Abstand über Arkaden und innerem Bogenfries. Die westlichen Querhausfenster beginnen nahe über den Seitenschiffswänden. Wie von Frau Schwens betont, deutet das an, dass die Seitenschiffe zunächst Sattelächer (oder Walmdächer) mit quer zur Gebäudeachse stehenden Dachfirsten über jedem einzelnen Joch hatten.


Wildeshausen, St. Alexandri:
Nordarkade

Köln: St Aposteln:
3-Konchen-Chor um 1200,
Mittelschiff 1200–1220

Roermond, Munsterkerk:
Nordkonche 1. Viertel 13. Jh.

Magdeburg, Liebfrauen:
Nordarkade

Bremer Dom: romanische
Arkaden, gotische Obergaden

Bremer Dom: Lisene m. 3 Vor-
lagen 10 cm breiter als mit 1

(4.)  Anderweitige Turmeinstürze:

Wie unterschiedlich die Konsequenzen eines Turmeinsturzes für das übrige Kirchengebäude sein konnten, sei an drei Vergleichsbeispielen verdeutlicht:

Bei der Marienkirche in Stralsund fiel 1384 der „bet an de sperete“ (bis die Turmspitze ?) hochgezogene Westturm ostwärts mittig auf das Kirchenschiff und zerstörte es „bet an det koor“ (bis an den Chor). Vom Chor seien noch sechs Pfeiler stehen geblieben. Daraufhin wurde die Kirche fast vollständig neu gebaut.

Der Turm der Gardelegener Marienkirche stürzte 1658 zweizeitig ein. Während des Himmelfahrtsgottesdienstes stürzte ein Teil seiner Wand in das Kirchenschiff, wodurch zwanzig Menschen zu Tode kamen. Einen Monat später fiel auch noch die Turnspitze. Sämtliche Gewölbe des Kirchenschiffs mussten neu gebaut werden. Die Chorgeölbe und der größte Teil der Umfassungsmauern des Schiffs blieben rehalten.

Der Südturm des zweitürmigen Bremer Doms stürzte 1638 ohne äußeren Anlass ein. Die entstandenen Bruchkanten des Stumpfes stiegen vom Mittelschiff zur Nordseite hin ab. Nennenswerte Schäden am Kirchenschiff entstanden anscheinend nicht.

(5.)  Schlussfolgerung:

Der Bau der jetzigen Alexanderkirche in Wildeshausen wurde etwa um 1200 möglicherweise an zwei Enden begonnen, im Osten mit Chor und Querhaus spätromanisch aus Backstein.(Auch am Kölner Dom und am Utrechter Dom wurden vor dem Langhaus untere Geschosse der Turmpartie errichtet. Wo man das Langhaus von Anfang an einwölben wollte, konnte der Westbau als Wiederlager für die Langhausgewölbe dienen.)
Der Patronatsbau im Westen hatte nach außen und auch gegen die Seitenschiffe Wandoberflächen aus Granit, aber von vornherein wurde an Innenwänden viel Backstein verwendet.

Das ebenfalls spätromanische basilikale Langhaus kann dann anschließend bis an den halbfertigen zweitürmigen Westbau gebaut worden sein.

Die dicken Mauern der Eckräume des Westbaues verdeutlichen noch mehr als der Ersteindruck der Außenansicht, dass die beiden unteren Geschosse noch von der Zweiturmfront stammen. Die Errichtung der Freigeschosse des Glockenturms oder der Glockentürme bildete bekanntlich üblicherweise den letzten Schritt eines Kirchenbaues. Die chronikalische Darstellung der Turmeinstürze verrät nicht, ob die Türme schon vollendet waren, oder aber während ihrer Errichtung einstürzten. Aus der üblichen Bauabfolge ergibt sich aber, dass die Kirche wahrscheinlich gerade fertig geworden war oder kurz vor ihrer Vollendung stand, als die Türme einstürzten. Dass keine beim ersten Einsturz keine Glocken beschädigt wurden, lässt darauf schließen, dass in diesem Turm noch keine Glocke aufgehängt war.

Der Wortlaut der Stifts-Chronik spricht gegen Oskar Tenges Schlussfolgerung, die Einstürze der Türme hätten auch die übrige Kirche ernsthaft beschädigt. Die fünf Jahre vom Einsturz des zweiten Turms bis zur „Grundsteinlegung“ des neuen Turms können außer zum Abräumen der Trümmer für Reparaturen am Schiff genutzt worden sein. Die erkennbare Reparatur einer Gewölbevorlage zwischen den Türmen könnte infolge eines der Einstürze erforderlich geworden sein.

Mit dem Bau des neuen, mittleren, Westturms kann notwendigerweise erst nach dem Einsturz auch des zweiten alten Turms begonnen worden sein. Seine Errichtung begann man in den inzwischen aktuellen frühgotischen Formen, kehrte aber bei den Glockengeschossen wieder zu romanischen Formen zurück. Von den äußeren Mauern des eingestürzten Südturms wollte man offensichtlich zunächst ein paar Steinlagen mehr stehen lassen, bis in Traufenhöhe des Mittelschiffs.

Das Dach des Nordseitenschiffs hatte in den sechzig bis hundert Jahren vor der Erstellung des jetzigen zwei verschiedene Formen, die vom anzunehmenden mittalelterlichen Ausgangsplan (kurze Querfirste) abwichen. Das macht die Gesamtentwicklung seit dem 13. Jahrhundert unübersichtlich.


(6.)  Exkurs:

„Wilshausen“ von M. Merian:

Für viele Baugeschichten sind die Stadtansichten und Vogelschaupläne Matthäus Merians d. A. eine nützliche Quelle. Die Ansicht von Wilshausen in seiner Topographia Westphaliae ist es nicht. Zu groß sind die Abweichungen von den Eigenschaften, die die Alexanderkirche im 17. Jahrhundert gehabt haben kann. Die beiden sicherlich auch damals markanten Querbauten fehlen ganz. Der Chor ist mit etwas geringerer Firsthöhe dargestellt als das Langhaus, bei gleicher Breite. Das deutet eine einschiffigen Kirche an, die St. Alexander seit dem 13. Jharhundert nicht mehr war. Die hohen Seitenfenster in Verbindung mit einem Satteldach von fast dreifacher Turmbreite würden zu einer Hallenkirche mit hohen Seitenschiffen passen, was diese Kirche nie war. Allein der Turm mit seiner Laterne hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem wohl auch damals vorhandenen kurzen Walmdach mit Dachreiter. Die von Christa Schwens angesprochene gestaffelte Dreifenstergruppe passt zu der regionalen Häufung dieser Befensterung von Ostgiebeln. Da angesichts mehrerer Ungereimtheiten die Abbildung zweifellos mit Fehlern behaftet ist, hat aber auch die Darstellung dieser Fenster wenig Beweiskraft.
Dargestellt ist der südlich anschließende Remter.



(7.)  Quellen zur Alexanderkirche:

• Dehio-Handbuch Bremen / Niedersachsen, Deutscher Kunstverlag (1992), S. 1369–1372

• Denkmalatlas Niedersachsen: St. Alexander (Wildeshausen, Stadt)

• Christa Schwens:Die Alexanderkirche in Wildeshausen und ihre Baugeschichte (Diss.), Verlag Holzberg, Oldenburg 1969/70
(Verfügbar u. a. im Magazin der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Signatur: kun 259 wil 824)

A. Former: Die Alexanderkirche zu Wildeshausen und ihre Wiederherstellung. In: Jahrbuch für die Geschichte des Herzogtums Oldenburg, Nr. 20 (1912)

Die Bau- und Kunstdenkmäler des Herzogtums Oldenburg. Bearb. im Auftrage des Grossherzoglichen Staatsministeriums (1896)

• Oskar Tenge: Die Stiftskirche zu Wildeshausen in
Die mittelalterlichen Baudenkmäler Niedersachsens. Erster Band.
Herausgegeben von dem Architecten- und Ingenieur-Verein für das Königreich Hannover (Google Books)
, S. 319 ff.

• Verein für Geschichte und Alterthumskunde Westfalens: Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Alterthumskunde. Sechster Band (1843),
S. 179 ff: Abschnitt VII.: Beiträge zur Geschichte de Stiftes Wildeshausen – von H. Sudendorf,
dazu Urkunden auf S. 225 284 „durch Pastor Lorenz aus dem … Kopialbuche der Kirche zu Wildeshausen abgeschrieben …“

• Directorium Cellariae (geführt von Thesaurarius Hermann Wilage), mit einem Calendarium, 1635, aufbewahrt im Niedersächsischen Landesarchiv, Abteilung Oldenburg: NLA OL, Best. 109, Ab Nr. 12 .

(8.)  Fußnoten:

1 – Oldenburgisches Urkundenbuch, 5. Band, Süd-Oldenburg, Gustav Rüthning (1930): S. 37/38,
    Urkunden Nr. 77 (1224 April 22.) und Nr. 78 (Bassum 1224 Juni 20.)

2 – Neue deutsche Biographie, Bd.: 6, Gaál - Grasmann, Berlin, 1964: Gerhard I., Graf von Oldenburg, Erzbischof von (Hamburg-) Bremen

3 – Alexander Former wurde am 23.08.1884 im Herzogtum Braunschweig geboren und starb 1919 in Wetzlar, Preußische Rheinprovinz.
    Sein Ingenieurstudium dürfte er einige Jahre vor 1910 abgeschlossen haben,
    denn als Autor
seines Berichtes über die von ihm durchgeführte Restaurierung der Alexanderkirche
    wird er als Diplomingenieur und Königlich Preußischer Baurat betitelt.
    An der technischen Hochschule in Braunschweig wurde er am 09.03.1912 zum Dr. ing. promoviert, Promotionsakte N 2 Nr. F 55.
    Die vermerkte Signatur der Universitätsbibliothek, UTr-811*4, dürfte sich auf die Dissertation beziehen.
    1914 begann bekanntlich der Erste Weltkrieg.
    Einem im Nds. Landesarchiv, Abt. Wolfenbüttel unter der Signatur (NLA WO) 3 Z Nr. 8/235 aufbewahrten Vermerk zufolge
    sei Alexander Former bei seinem Tode in Wetzlar dort Stadtverordneter gewesen.
    Als Hintergrund ist die politische Entwicklung zu berücksichtigen; infolge der Novemberrevolution von 1918
    wurden im Januar 1919 Wahlen zur Nationalversammlung und zu den Parlamenten der Bundesstaaten durchgeführt
    und gleichzeitig oder kurz darauf auch die meisten Stadt- und Gemeinderäte in Deutschland neu gewählt.

4 – Dehio-Handbuch Bremen · Niedersachsen, Deutscher Kunstverlag (1992), S. 916/917
    und Denkmalatlas Niedersachsen: Kirche St. Osdag

5 – Kirchengemeinde Mandelsloh: Kirche & Geschichte: St. Osdag Kirche

6 – Die Kunstdenkmäler der Stadt Köln. Im Auftrage des Provinzialverbandes der Rheinprovinz
    und mit Unterstützung der Stadt Köln in Verbindung mit W. Ewald [et al.] Hrsg. von Paul Clemen,
    S. 117: „MCCXIX mense Marcio …; quo tempore hoc ecclesia testudinata est.

7 – Monumenten in Nederland: Band Limburg, (verfügbar als PDF zum kostenlosen Download von der dbnl), S. 299

8 – Dehio Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler „Sachsen-Anhalt I“, Deutscher Kunstverlag (2002), S. 557–561

9 – Bremisches Urkundenbuch Nr. 129 (1. Band [1863, Lieferung 2–3, S. 152: Nr. 129, Lateran 18. März 1224

10 – Annales Stadenses A. 1072–1093, digitalisiertes Transkript S.316 Zeile 44/45:
    «destruxit et a lundamentis hanc, que hactenus cernitur, construxit.»,
    „– riss sie nieder und baute von den Fondamenten auf, was bis heute zu erkennen ist/so dasteht.“

11 – Bremisches Urkundenbuch (1381 – 1410) S. 10 Nr. 10:
    «ecclesia nostra Bremensis, que est mater nostre dyocesis et provincie, que venusta et magna in sua fabrica in edificiis cernitur, …»,
    „unsere Bremische Kirche, die die Mutter der Diözese und Provinz ist, (und) die in ihrem anmutigen und großen Bau
    in (den) Gebäuden (→ von allen anderen Gebäuden) sich unterscheidet, …“

12 – Hermann Haiduck: Die Architektur der mittelalterlichen Kirchen im ostfriesischen Küstenraum,
    2. überarbeitete und erweit. Aufl., Ostfriesische Landschaft, 2009, ISBN 978-1-94601-05-6, ganzes Buch

13 – Broschüre über Dorfkirchen in den Landkreisen Diepholz und Nienburg (PDF)


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