→ gebaut.eu Startseite          

→ Die „romanischen“ Westportale des Bremer Doms – wahrscheinlich aus der Zeit der Spätgotik

Die frühgotische Einwölbung des Bremer Doms

1.  Datierung:

1.1.  Datierte Dokumente zum Kirchbau:
Als wichtigstes Dokument gilt die Bewilligung eines Ablasses durch Papst vom 8. März 1224.1a Ob dieser Ablass zu Anfang der Einwölbung veranstaltet wurde, wie gerne angenommen, oder erst später, um den Fortgang der Arbeiten zu finanzieren, ist an weiteren Anhaltspunkten zu prüfen.
Immerhin stand der Ablassbrief von 1266 für den Lübecker Dom (Urkundenbuch des Bisthums Lübeck herausgegeben von Dr. Wilhelm Leverkus, Erster Theil. S. 188/189 Nr. CLXXXIII – 1266. Nov. 9. 2) ausdrücklich am Beginn des dortigen Chorneubaus: «Decanus et Capituium lubicense, …, Cathedralem ecciesiam eorum … ampliare inceperint opere sumptuoso.», „Dekan und Kapitel … mit der aufwändigen Arbeit angefangen haben werden, ihre Kathedrale zu erweitern“. Der Lübecker Ablassbrief wandte sich nicht an die Bürger Lübecks (die damit beschäftigt waren, ihre Marienkirche größer und schöner zu bauen als den Dom in der Stadt), sondern an die „Gläubigen in Stadt und Provinz Bremen“ («fidelibus per Ciuitatem et prouinciam Bremensem»). Damit ist der Brief zwar absolut kein Beweis, aber doch ein möglicher Hinweis, dass zu 1266 die Einwölbung des Bremer Doms und die Arbeiten an den vier Bremer Pfarrkirchen weitgehend abgeschlossen waren.

Aus Vergleich mit anderen Siegeln3und zusammen mit Baubefunden in der Westkrypta4 erscheint die Domdarstellung im erstmals 1229 erwähnten Bremer Stadtsiegel1b glaubhaft. Damit dürften auch die Gewölbe in und zwischen den Domtürmen um 1230 fertiggestellt gewesen sein.

1.2.  Politischer Rahmen:
Vor dem Amtsantritt Gerhards II. hatte es zwölf Jahre lang massive Konflikte und drei Jahrzehnte lang Unklarheiten um das Bremer Erzbischofsamt gegeben, die aufwändigen Baumaßnahmen am Dom abträglich waren:
Schon 1187 oder 1888 hatten sich die Bremer Bürger bei Kaiser Friedrich I. über die hohen Steuerforderungen Hartwigs II. beschwert und Unterstützung gefunden.5 1189 vertrieben sie ihn aus der Stadt. Friedrichs Nachfolger Heinrich VI. verbot den Bremern, den Bischof wieder aufzunehmen.
Dennoch kehrte er 1194 zurück ( BUB, 1. Band [1863], Lieferung 1, S. 89 Nr. 78 (3. Juli 1194), Vertrag Hartwigs II. mit dem Domkapitel) und regierte zu seinem Tode 1207. Trotz des ungeklärten Status war die Zeit aber relativ ruhig. So unternahm er eine Wallfahrt ins Gelobte Land und brachte auf der Rückfahrt 1197 Reliquien mit. In den zehn jahren zwischen der Wallfahrt und dem Tod Hartwigs kann am Dom gebaut worden sein, aber nachzuweisen ist das nicht. Noch weniger ist abzugrenzen, welche Teile der 1229 vorhandenen Turmpartie schon unter Hartwig errichtet sein können.

Während Hartwigs englischem Exil war 1192 Waldemar, aus dem dänischen Königshaus Estridson und schon seit 1182 Bischof von Schleswig, zum Erzbischof gewählt worden, wurde aber von 1192 bis 1206 von den dänischen Königen Knut VI. und Waldemar II. gefangen gehalten, da er ihr Gegner im Streit um den dänischen Thron war. Nach Hartwigs II. Tod wurde 1207 der Schleswiger Waldemar erneut zum Erzbischof von Bremen gewählt, aber, unterstützt von König Waldemar, wählte das Hamburger Domkapitel 1208 Burchard von Stumpenhausen zum Gegen-Erzbischof.

Papst Innozenz III. wies in seinem Schiedsspruch beide Kontrahenten zurück und designierte stattdessen Gerhard I., seit Bischof von Osnabrück zum neuen Erzbischof. Dieser wurde 1211 vom Domkapitel gewählt, stieß aber im Erzstift auf heftigen Widerstand durch Kaiser Otto IV., die Stadt Bremen, einige Edelleute sowie die Stedinger Bauern. Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern Gerhards I. und Waldemars werden als Waldemar'sche Wirren bezeichnet. Schließlich wechselten die Stedinger auf die Seite Gerhards. Sogar nachdem die Stadt und Gerhard sich in der Concordia von 1217 geeinigt hatten, setzte der (auf Reichsebene seit 1214 entmachtete) Kaiser Otto IV. den Krieg fort, indem er weiterhin das Erzstift verwüstete.6

1.3.  Stilistische Aspekte:
Welche Bauweise dreißig Jahre vor dem Amtsantritt Gerhards II. im Bremer Raum aktuell war, lässt sich an der Klosterkirche St. Marien in Osterholz abschätzen. Die Alexanderkirche in Wildeshausen, errichtet ab etwa 1200 bis vor 1214,7 hat schon Rippengewölbe nach dem Vorbild der Zisterzienserkirche Marienfeld, aber in den Seitenschiffen noch runde Gurt- und Schildbögen. Die frühgotischen Chor- und Langhausgewölbe des Bremer Doms sind also, abgesehen von den aus dem 11. Jahrhundert übernommenen Arkaden, allesamt moderner.
Was es weiter entfernt und vorher gab, wird bei den französischen Vorbildern angesprochen. Hinzu kommen die spitzbogigen Bandrippengewölbe, mit denen das Mittelschiff des Wormser Doms ab 1140 errichtet wurde. Das soll aber nicht dazu verleiten, das ähnliche Gewölbe über dem Bremer Westchor (seit 1502–1532 Orgelempore) ebenso früh einzuschätzen.

Für einen Abschluss der Einwölbungen vor dem Ablass für Lübeck 1266 spricht stilistisch das Fehlen hochgotischer Elemente.

 
Osterholz: Klosterkirche, roma­nisch 1186–1197, gotisch nach 1345

Wildeshausen: Alexanderkirche, Südseitenschiff

Wildeshausen: Alexanderkirche, Vierung und Chor

Bremen: Unser Lieben Frauen, ab ca. 1220, „oben“ beson­ders präch­tiges Südostjoch
 
1.4.  Fazit:
Die Turmpartie wurde entweder teils zwischen 1197 und 1207 und teils zwischen 1219 und 1229 errichtet, oder insgesamt in der zweiten dieser beiden Phasen.
Die Einwölbung von Chor und Langhaus begann entweder 1219 oder 1224 und war 1266 wahrscheinlich abgeschlossen.


2.  Vielfalt an Gewölben

Im 13. Jahrhundert wurden zunächst die Westtürme errichtet und der Westchor eingewölbt, dann die übrige Kirche eingewölbt und dabei die oberen Wandpartien des Chors und die Obergaden erneuert. Die dabei westlich des Langhauses errichteten Gewölbe waren allesamt romanisch: Die Erdgeschosse der Türme und das jeweils eine Joch zwischen Turm und Seitenschiff erhielten Kreuzgratgewölbe, ebenso das westliche der beiden Joche über dem Westchor, allerdings im Westchor und den südlichen Räumen mit spitzen Gurt- und Schildbögen. Das östliche Joch über dem Westchor hat sehr kräftige Bandrippen, ebenfalls mit spitzen bandförmigen Gurt- und Schildbögen.
Die anschließend über Langhaus, Ostchor und Querhaus errichteten Gewölbe sind deutlich moderner, weisen aber zwei sehr unterschiedliche Grundtypen auf, in jeweils zwei Varianten.

Zwar ist anzunehmen, dass wenigstens das Mittelschiff des Langhauses nach dessen Seitenschiffen eingewölbt wurde, aber 1224 gab es sowohl für die Seitenschiffsgewölbe als auch für die Mittelschiffsgewölbe schon Vorbilder in gut erreichbar geringer Entfernung. Beide lassen sich auf französische Vorbilder zurückführen, die für das Mittelschiff möglicherweise sogar älter sind als für die Seitenschiffe, genau genommen als für das frühgotisch erhaltene Südseitenschiff.

Regional gesehen, gehen die stark gebusten Rippengewölbe des Südseitenschiffs auf das Vorbild der seit dem frühen 13. Jahrhundert errichteten Kirche des westfälischen Zisterzienserklosters Marienfeld 8 +  9 zurück, gestiftet unter anderem von Bernhard zur Lippe, dem Vater des Erzbischofs Gerhard II.

Die sechsrippigen Doppeljoche des Mittelschiffs haben auffällige Ähnlichkeit mit den Gewölben, die nach Errichtung eines provisorischen Daches 1220/1221 (d) in das Mittelschiff der im 11. Jahrhundert errichteten Prämonstratenserkirche Unser Lieben Frauen in Magdeburg eingezogen wurden.10

In der Bremer Martinikirche, errichtet ab 1229, also während der Einwölbung des Doms, fand Siegfried Fliedner kurz vor 1960 ein eingemauertes Kapitell nach dem Muster des Dom-Mittelschiffs11
und schloss daraus, die Kirche sei zunächst nach dem Muster des Doms eingewölbt worden, die Gewölbe aber nach dem Einsturz der Ansgarikirche (1244) wegen mangelnder Standsicherheit auf dem weichen Baugrund durch die heutigen ersetzt worden, ebenfalls sechsteilig, aber mit aus Backstein gemauerten Gurtbögen rechteckigen Querschnitts. Weitere Indizien für diese zwei Einwölbungen im Abstand von etwa zwanzig Jahren erwähne er aber nicht. Es gibt im mittelalterlichen Kirchenbau mehrere Beispiele, wo Bauherren und Bauleute sich während einer Bauphase entschieden, ihre Arbeit mit anderem Ziel fortzusetzen als womit sie begonnen hatten. In Einzelfällen wurde sogar unentschlossen auf gleichzeitig zwei divergente Ziele hin gearbeitet.12

Bremer Dom: Orgelempore

Bremer Dom: zwischen Südseitenschiff und Südturm

Bremer Dom: Südseitenschiff

Bremer Dom:
Vierung und Chor

Bremer Dom:
Vierung und Nordquerhaus

3.  Die Mittelschiffsgewölbe der Magdeburger Liebfrauenkirche und des Bremer Doms

Der Magdeburger Erzbischof Albrecht von Käfernburg (geboren um 1170, Episkopat 1206–1232) hatte in Paris (und Bologna) studiert und kannte daher Bauten der frühen französischen Gotik, des Gothique primitif. Offensichtlich von diesen Eindrücken angeregt, initiierte er den Bau des gotischen Magdburger Doms. Durch Unsicherheiten beim Baubeginn (teilweise zwei Anläufe der Fundamentierung) und finanzielle Probleme schritt der Bau nur langsam voran, sodass Albrecht von seinem eigenen Projekt letztlich nur den Chorumgang mit den Radialkapellen zu sehen bekam. Als klar wurde, dass der Dombau sich lange hinziehen würde, ließ er die benachbarte, seit 1126/34 einem Prämonstratenserkloster gehörende Liebfrauenkirche zur Ersatzkathedrale herrichten, indem er in das Gemäuer aus der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts gotische Mittelschiffsgewölbe einziehen ließ.
Das Magdeburger Prämonstratenserkloster10
hatte schon seit Langem intensive Beziehungen zu Frankreich. Evermod, der Probst des Klosters von 1134 (Tod Norberts von Xanten, Ordensgründer und Erzbischof von Magdeburg) bis 1154 (Einsetzung als erster Bischof von Ratzeburg) kam aus Cambrai in Nordfrankreich. Folglich dürfte die Einwölbung der Seitenschiffe mit spitzbogigen Kreuzgratgewölben irgendwann zwischen Mitte des 12. Jahrhunderts und dem Amtsantritt Albrechts von Käfernburg vollzogen worden sein.
Die unter Albrecht von Käfernburg eingezogenen sechsteiligen Doppeljoche des Mittelschiffs haben große Ähnlichkeit mit denen des Gothique primitif, aber im Unterschied zu den waagerechten Scheiteln der französischen Vorbilder einen leichten Stich. Vergleiche hinsichtlich des äußeren Strebewerks sind dadurch beeinträchtigt, dass dieses bei vielen der französischen Bauten später verändert wurde. Heute sieht man bei vielen eine Abstützung aller Pfeiler durch Strebebögen. An der Magdeburger Liebfrauenkirche sind die Obergaden äußerlich nur durch Strebepfeiler abgestützt, die notwendigerweise auf den Gurtbögen der Seitenschiffe stehen, aber sie werden von Strebebögen getützt, die unter den Seitenschiffsdächern verborgen sind. An den Seitenschiffaswänden finden sich ebenfalls nur an diesen Stellen Strebepfeiler, im Westteil der Südseite allerdings nicht einmal dort. Das Mauerwerk der Strebepfeiler zeigt nur bei genauem Hinsehen Unterschiede zu den romanischen Wandflächen der Hoch- und Seitenschiffswände, aber die Höhenlagen der Steine und Fugen deuten an, dass sie nicht mit den Wänden verzahnt sind. Auffälligerweise werden durch diese Strebepfeiler nur die Ecken der Doppeljoche abgestützt, deren Zwischenpfeiler aber nicht. Die Obergaden blieben im Wesentlichen unverändert, jedoch wurden innen hinter den einzelnen Wandvorlagen Nischen aus den Mauern gestemmt, um durchgängige Laufgänge zu schaffen. Anders als in Bremen liegen die Laufgänge fast auf gleicher Höhe wie die Westempore

Weder das umfangreiche Dominventar von Heiko Brandl und Christian Forster13, noch die lesenswerte Dissertation von Birthe Rogacki-Thiemann14 berücksichtigt die Liebfrauenkirche.


Westlichste Strebepfeiler
an nördli;chem Obergaden
und Seitenschiff

Magdeburg: Liebfrauenkirche, Mittelschiff ab 1221 (d) eingewölbt

Mittelschiff

Südseitenschiff

(nördlicher) Obergaden
>mit Laufgang


Südseite: Strebepfeiler an Obergaden
und Teil des Seitenschiffs

 
 
Bremen: St. Petri Dom, eingewölbt wohl ab 1224

Mittelschiff axial

Frühgotischer Obergaden mit Laufgang auf roman. Arkade

Roman. Arkade, Lauf­gänge in geöffnetem frühgot. Ober­gaden u. spät­got. Nordwand

Obergaden mit Strebebögen

Südquerhaus von Westen

Wie die Fensterformen andeuten und Materialuntersuchungen durch Ernst Ehrhardt (zwischen 1897 und 1901) bestätigten,15 wurden im Bremer Dom für die Einwölbung des Mittelschiffs die Obergaden großenteils ersetzt. Allerdings sind in der Westwand des Südquerhauses neben den frühgotischen Fenstern außen Spuren eines älteren Fensters zuerkennen. Die Doppeljoche innen haben sehr große Ähnlichkeit mit denen der Magdeburger Liebfrauenkirche. Aus der zeitlichen Abfolge heraus darf sie wohl als Vorbild angesehen werden. Die äußere Abstützung erfolgt durch Strebebögen, aber wie am Magdeburger Vorbild sind nur die Ecken der Doppeljoche außen abgestützt, nicht die Zwischenpfeiler. Die Bögen zur Abstützung der Zwischenpfeiler des Chors wurden erst 1916 angefügt, als sich zeigte, dass der bei der Domerneuerung um 1900 aufgesetzte Vierungsturm das Gebäude überlastete.

In manchen gedruckten Beschreibungen des Bremer Doms ist erwähnt, dass durch den nachträglichen Anbau der Kapellenzeile die Fialen der Strebebögen aus der Mitte der Seitenschiffsdächer kommen, aber keine erwähnt die außergewöhnliche Verteilung.

Deutliche Unterschiede zwischen beiden Kirchen zeigt die Führung der Laufgänge:
In Magdeburg sind die Vorlagen der gotischen Gewölbe oberhalb der romanischen Arkadenbögen durch eine Spitzbogenarkade verbunden, der alten Arkade vorgelagert. Diese Spitzbögen tragen die Laufgänge. An den Gewölbevorlagen sind aus den Hochschiffswänden Nischen herausgehauen worden, durch die der Laufgang jeweils hinten um die Gewölbevorlage herum geleitet wird.
In Bremen nehmen die Hochschiffswände infolge ihrer Erneuerung nur die Außenseiten der Arkaden ein. Auf deren Innenseiten verlaufen die Laufgänge. In ähnlicher Weise ist der Laufgang um den Chor angelegt, nur dass er hier auf der Innenseite der Außenwände verläuft. Die Seitenschiffsarme haben keine Laufgänge. Auf der Westseite des Südquerhauses ist der Rest eines romanischen Fensterbogens zu erkennen. Außergewöhnlich in den Wandaußenseiten des Südquerhauses sind die giebelähnlich geformten (aber kaum vorstehenden) Backsteineinlagen über den frühgotischen Fenstern.


Zweitwestlichster Bogen der Süd­arkade: links Joch­ecke, rechts Zwischenpfeiler
Zu vergleichen ist weiterhin der Einsatz der Rundbogenfriese im Inneren. In Magdeburg zieren sie die die vorgelagerten Spitzbogenarkaden.
In Bremen befinden sie sich an den romanischen Arkaden und an den Außenwänden von Querhausarmen un Chor. Obwohl sie optisch mit der Form der Arkaden harmonieren, wurden sie offensichtlich erst bei der frühgotischen Einwölbung angebracht. Die Lage ihrer Bögen ist auf die Lisenen an den Pfeilern abgestimmt. Deren Breite wiederum berücksichtigt die Anzahl der ihnen vorgelagerten Gewölbedienste: An den Ecken der Doppeljoche mit drei Gewölbediensten sind diese Lisenen etwa 80 cm breit, an den Zwischenpfeilern mit einem Gewölbedienst etwa 8 cm schmaler, also um 72 cm breit.

Bei der Anlage des hohen spätgotischen Nordseitenschiffs ab 150216 gab es mehrere Rückgriffe auf frühgotische Teile der Kathedrale: Es wurden frühgotische Kapitelle wiederverwendet, die neue Nordwand erhielt zwischen unterer und oberer Fensterreihe einen Rundbogenfries, und auf den Sohlbänken der oberen Fensterreihe wurde ein Laufgang angelegt.

4.  Französische Vorbilder

4.1.  Krondomäne und Nachbargebiete, „Pariser Gotik“
In Frankreich hat die Kathedrale von Senlis ein wie in Bremen angeordnetes Strebewerk. Die Positionen der die Bögen tragenden Pfeiler stammen zwar aus den 1170er Jahren, aber die Gewölbe wurden im 15. Jahrhundert nach einem Großbrand erneuert und dabei wohl höher gelegt, wie Dominique Vermand in Églises de l'Oise schreibt.17
Die ältesten spitzbogigen Doppeljoche mit sechs Rippen sind in der Kathedrale von Sens erhalten, Baubeginn wohl 1134, Fertigstellung des Langhauses um 1168. Binnenchor und Mittelschiff der Abteikirche Saint-Denis, deren Chorumgang 1140 entscheidend bei der Entwicklung der Gotik des französischen Kronlandes war, wurden schon Anfang des 13. Jahrhunderts ersetzt.

 
 
Mittelschiff der Kathedrale
von Sens

Chorobergaden der Kathedrale von Senlis,
Doppel­joche mit Schatten­wurf der Strebe­bögen,
das rechte stark vom Treppen­turm verdeckt

Chorgewölbe der Kathedrale
von Senlis, im 16. Jh.
in alter Struktur erneuert
 

4.2.  Westfrankreich, „Angevinische Gotik“
In Westfrankreich wurden in der Kathedrale von Angers statt der in der romanischen Architektur Westfrankreichs beliebten (ungegliederten) Kuppeln um die Mitte des 12. Jahrhunderts erstmals stark gebuste Kreuzrippengewölbe errichtet, sogenannte Domikalgewölbe. Dies gilt als Ausgangspunkt der Angevinischen Gotik (Gothique angevin, auchStyle plantagenêt). Zu der Stilbezeichnung Gotik ist allerdings festzustellen, dass wenigstens bei den frühen Bauten (bzw. Bauphasen) die innovativen Rippengewölbe in Verbindung mit rundbogigen Fenstern und Portalen errichtet wurden, diese Bauten, stünden sie in Deutschland, also wahrscheinllich der Spätromanik zugerechnet würden.
In der Kathedrale von Angers haben die Joche nur vier Rippen. Joche mit acht Rippen sind in Westfrankreich nicht selten, Scheitelringe, wie sie in Westfalen beliebt wurden, allerdings ziemlich selten.
Ein Beispiel ist die Kirche Sainte-Trinitè in Angers, errichtet im dritten Viertel des 12. Jahrhunderts18, ein weiteres die Abteikirche Saint-Pierre in Airvault, deren Tonnengewölbe Ende des 12./Anfang des 13. Jahrhunderts durch Rippengewölbe ersetzt wurden.19 Anders als an Kathedrale und Sainte-Trinité in Angers und anders als in der Kathedrale von Poitiers gehören in Airvault die Rundbogenfenster offensichtlich zur romanischen Phase, hier mit den Tonnengewölben. Der Einbau von Rippengewölben geschah in Verbindung mit der Anfügung der Radialkapellen an den Chorumgang. Der Chorumgang selber hat noch Rundbogenfenster und sein Unterbau einfache Rundbögen, die Radialkapellen haben Spitzbogenfenster und ihre Unterbauten gelappte Rundbögen.

 
Sainte-Trinité, Angers

Sainte-Trinité, Angers
 

5.  Frühe westfälische Domikalgewölbe:

Domikalgewölbe nach westfranzösischem Vorbild wurden ab etwa 1200 in der Kirche des Klosters Marienfeld errichtet, zu dessen Stiftern Bernhard II. zu Lippe gehörte, der Vater Gerhards II. Dort sind die meisten Joche mit Rippenausge- stattet. Es folgte die Hauptpfarrkirche des von Bernhard II. gegründeten Lippstadt. Dort ist nur die Vierung mit Rippen versehen, im benachbarten Langhausjoch wurde damit angefangen, aber dann verzichtet. Im von der Schwester Gerhards II. als Äbtissin begonnenen Herforder Münster hat nur das Joch westlich der Vierung Rippen; dort stand der wichtige Marienaltar. Diese Gewölbe bildeten eine große Neuerung gegenüber den bis um 1200 hier üblichen typisch romanischen Gewölben mit rundbogigen bis minimal gespitzten Querschnitten. Aber anfangs wurden sie in Gebäuden mit ansonsten überwiegend romanischen Stilmerkmalen verwendet. Mit der Zeit kam die Verwendung in Verbindung mit weiteren gotischen Merkmalen, schließlich sogar hochgotischen Maßwerkfenstern.
 
Klosterkirche Marienfeld

Lippstadt: Vie­rung der Gro­ßen Marienkirche

Herforder Münster: Joch vor der Vierung
 


6.  Fußnoten:

1 – Bremisches Urkundenbuch , 1. Band [1863], Lieferung 2–3:
1a – S. 152/153 Nr. 129,
Bremensis ecclesia paupertate gravata et pressa onere debitorum minetur pre vetustate ruinam, et ad reparationem ejus proprie non sufficiant facultates, … 1b – S. 174/175 Nr. 151, A. dei gratia decanus sancti Ancharii, Otto Rufus civis Bremensis … scriptum appositione sigilli civitatis roborare.
2 – Den Ablassbrief für den Lübecker Dom zu finden ist hindernisreich, denn er steht im ersten Teil des Urkundenbuches des Bistums Lübeck, das aber seinerseits den zweiten Teil der Lübecker Urkundensammlung Codex Diplomaticus Lubecensis) bildet.
Dort S. 188 https://archive.org/details/bub_gb_UsJZAAAAcAAJ/page/187/mode/2up
und S. 189 https://archive.org/details/bub_gb_UsJZAAAAcAAJ/page/189/mode/2up.

3 – Kirchendarstellungen in mittelalterlichen Siegeln und Stifterbildern

4 – Die „romanischen“ Westportale des Bremer Doms – wahrscheinlich aus der Zeit der Spätgotik → Die Westkrypta

5 – Bremisches Urkundenbuch , 1. Band [1863], Lieferung 1:
5a –
S. 81 Nr. 70., Beschwerde der Bremer Bürger bei Kaiser Friedrich I. gegen Erzbischof Hartwig II.
5b –
S. 82 Nr. 71., Antwort Friedrichs I.: F. dei gratia Romanorum imperator …

6 – Bremer Bischofschronik, Gerhard I.S. 66/67 De Gerardo (Titel uneindeutig; das nachfolgende Kapitel über seinen Nachfolger Gerhard II. ist ebenso betitelt.
https://archive.org/details/den-kbd-all-130017588789-002/page/n76/mode/2up

7 – Nach dem üblichen Ablauf mittelalterlicher Kirchbauten, nach den politischen Rahmenbedingungen und nach stilstischen Kriterien ist die Alexanderkirche in Wildeshausen wahrscheinlich während der Osnabrücker Amtszeit Gerhards I. (1191–1217) errichte worden, undzwar erst ab etwa 1200. Die Obergeschosse der beiden Westtürme bildeten die letzte Baustufe, stürzten aber bald ein, 1215 und 1219. Die verbreitete Ansicht, die Grundsteinlegung des neuen Einturms 1224 sei der Auftakt für den Bau der heutigen Kirche gewesen, geht auf eine weder vom Urkundenvermerk noch vom Baubefund gedeckte voreilige Schlussfolgerung des damals noch unerfahrenen Tiefbauingenieurs Oskar Tenge aus dem Jahr 1861 zurück.

8 – Georg Dehio Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler:
Nordrhein-Westfalen II · Westfalen.
Dehio Vereinigung.
Deutscher Kunstverlag 2016, S. 399 ff., Harsewinkel → Marienfeld

9 – Holger Kempkens: Bernhard II. zur Lippe und die Architektur der Abteikirche Marienfeld.
In: Lippe und Livland, Mittelalterliche Herrschaftsbildung im Zeichen der Rose,
Jutta Prieur (Hg.): Ergebnisse der Tagung „Lippe und Livland“ Detmold und Lemgo (2006),
(= Sonderveröffentlichungen des Naturwissenschaftlichen und Historischen Vereins für das Land Lippe e.V., Bd. 82). Bielefeld (2008), S. 103-124.

10 – Leonhard Helten / Annegret Labs (Hg.)):
Kloster Unser Lieben Frauen Magdeburg
– Die Architektur des Kirchenbaues vom 11. bis 13. Jahrhundert
.
Mitteldeutscher Verlag 2021.
→ insbes. Aufsätze von Annegret Laabs und Frank Höhn

11 – Siegfried Fliedner, Werner Kloos:
Bremer Kirchen.
Verlag Heye, 1961. Seite 91.

12 – Beispiele vorbereiteter oder begonnener aber nicht ausgeführter Bauansätze im frühen bis mittleren 13. Jahrhundert sind die angefangene Rippe im östlichen Langhausjoch der Marienkirche zu Lippstadt und die Gurtbögen ohne Gewölbe in der Bartholomäuskirche zu Golzwarden. In der Bremer Marinikirche waren die bis heute erhaltenen aus Backstein gemauerten Gurtbögen rechteckigen Querschnitts schlichtweg billiger als elegant profilierte Sandsteingurte nach dem Muster des Doms.

13 – Heiko Brandl, Christian Forster:
Der Dom zu Magdeburg. Band 1: Architektur.,
Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt.
Verlag Schnell & Steiner, Regensburg 2011,

14 – Birte Rogacki-Thiemann:
Der Magdeburger Dom St. Mauritius et St. Katharina – Beiträge zu seiner Baugeschichte 1207 bis 1567.
Berliner beiträge zur Bauforschung und Denkmalpflege 6
Michael Imhof Verlag, Petersberg 2007

15 – Hans Christoph-Hoffmann: Die Erhaltung des St. Petri Doms zu Bremen im 19. Jahrhundert,
Wittheit zu Bremen (Hg.), Verlag H. M. Hauschild (Bremen 2007),
S. 132–142, Auszüge aus den baugeschichtlichen Befunden im Bautagebuch von Ernst Ehrhardt.

16 – Georg Dehio Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler:
Bremen · Niedersachsen.
Dehio Vereinigung.
Deutscher Kunstverlag, München 1992, S. 6–14.

17 – Dominique Vermand: Églises de l'Oise: Senlis, Cathédrale Notre-Dame

18 – Base Mérimée, PA00108879, Angers, Église de la Trinité

19 – Base Mérimée, PA00101165, Airvault, Ancienne abbaye Saint-Pierre


→ Impressum